37. Roter Stuhl: Gabriel punktet auch mit Selbstkritik
von Jürgen Hestler
Ehrlichkeit in der Politik
Landtagswahl 2011: Der SPD-Bundesvorsitzende gibt sich auf dem Roten Stuhl als unkämpferischer Wahlkämpfer der leisen Töne.
Das Konzept des Roten Stuhls ist bewährt: Mitglieder der Juso-AG Backnanger Bucht und der SPD-Ortsgruppe Weissach stellen den Bürgern auf der Straße Fragen und schneiden aus den Antworten ein Filmchen. Und der Prominente auf dem Roten Stuhl schaut sich dieses an und nimmt Stellung. Am Donnerstagabend hatte Sigmar Gabriel Platz genommen. Er wurde mit dem Thema Politikverdrossenheit konfrontiert und punktete am Ende auch mit Selbstkritik.
WEISSACH IM TAL. Wahlmüdigkeit, Politikverdrossenheit, Demokratiezerfall. Das waren Themen, die von den Bürgern ständig angesprochen wurden. Sigmar Gabriel hat sich das zu Herzen genommen. Er lobt den Zusammenschnitt trotz der schlechten Noten, die die Politiker bekommen, „das ist ein gutes Stimmungsbild“. Der Bundesvorsitzende der SPD fasst die Aussagen der Bürger zusammen: „Die da oben und wir da unten. Die reden von Dingen, die sie nicht verstehen oder die uns nichts angehen.“ Der Tonfall des Abends war zementiert.
Die Beteiligung an den jüngsten Wahlen sind für Gabriel alarmierend. Werte von 80 bis 90 Prozent bei den Bundestagswahlen waren einst normal, zuletzt (2009) schaffte es die Quote gerade noch über die 70-Prozent-Marke. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt besteht die Gefahr, unter 40 Prozent zu rutschen. Selbstkritisch fragte der 51-Jährige: „Was können wir tun, um die wachsende Distanz zwischen den Menschen und denen, die von ihnen gewählt wurden, zu überbrücken?“ Seine Lösung: „Vielleicht sagen wir nicht über die einen, die machen alles falsch, und über die anderen, die machen alles richtig.“ Ungewohnt unkämpferische Worte eines Wahlkämpfers.
Ein Zuhörer spricht den Widerspruch an: Wahlmüdigkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite gehen die Bürger auf die Straße und zur Recherche in den Computer. „Ist das nicht eher ein Indiz für eine Krise der Demokratie?“, will er wissen. Gabriel stimmt zu, diese Krise gibt es. Er spricht die Finanzkrise an, die Kreditklemme, die Überschuldung der Länder und den Ärger der Menschen, die jetzt dafür bezahlen müssen, weil sich die Banken verzockt haben. Er ist aber auch überzeugt davon, dass die Politik komplizierter geworden ist. Ein Beispiel. Die wichtigsten Gesetze werden in Brüssel gemacht, aber keiner geht zur Europawahl. Gabriel bringt es auf den Punkt: „Politik ist nicht so einfach, wie die Bild-Zeitung es versucht darzustellen.“
Immer noch zeigt sich der SPD-Frontmann wenig angriffslustig, die Konkurrenz-Parteien werden geschont. Im Gegenteil. Gabriel sagt, die Politik hat Fehler gemacht und nennt konkret ein Beispiel, das auf die Kappe seiner Partei geht: „Die SPD hat dazu beigetragen, dass sich der Niedriglohnsektor ausgeweitet hat.“ Und auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Großen Koalition listet er auf. Vor der Wahl wollte die SPD keine Erhöhung, die CDU zwei Prozent. Geworden sind es drei Prozent. „Da kann ich verstehen, dass die Leute sagen, ihr habt uns beschissen.“ Oder die in allen Parteien vorhandene Einstellung, „mach es quick and dirty“, was sinngemäß bedeutet: Mach die Schweinereien am Anfang, bei der nächsten Wahl haben es die Wähler wieder vergessen. Selbst für die Wagenburgmentalität der CDU im Fall zu Guttenberg zeigte er Verständnis, „es ist menschlich und in allen Parteien so, einen Kollegen nicht fallen zu lassen“.
Aufgrund der Fragen der Gäste geht es kreuz und quer durch den Gemüsegarten der politischen Themen: Afghanistan, Libyen, Umweltpolitik, E10. Als gegen Ende ein Gast fragt, was nach einem Regierungswechsel in Baden-Württemberg unter den Sozis besser werde, atmet Gabriel sichtlich auf: „Ich dachte schon, Sie fragen gar nicht danach.“ Dann kommt der Wahlkämpfer ins richtige Fahrwasser: Bildungspolitik, Schulen auf Dörfern, gebührenfreie Kindergärten, Abschaffung der Studiengebühren, gerechter Lohn für Leiharbeiter, keine Atomlaufzeitenverlängerung und Investitionen in erneuerbare Energien. Alle Punkte werden angeschnitten. Aber da sitzen die 270 Besucher auch schon seit knapp zwei Stunden. Andererseits haben sie einen Politiker kennengelernt, der ehrlich rüberkommt. Das ist auch keine Selbstverständlichkeit.