Brief an Martin
von Jürgen Hestler
Kreisverband Rems-Murr
An
Martin Schulz
Willy-Brandt-Haus
Wilhelmstr. 141
10963 Berlin
Lieber Martin,
Du hast Dich im letzten „Vorwärts“ für eine fundamentale Erneuerung der SPD ausgesprochen. Die SPD im Rems-Murr-Kreis (420000 Einwohner, rund 1200 Mitglieder) möchte Dich dabei unterstützen.
Wir haben vor Ort unter dem Motto „SPD-Rems-Murr 4.0“ in den letzten Jahren viele Anläufe unternommen, die SPD im Kreis organisatorisch und kommunikativ modern aufzustellen (Basiskonferenzen mit Konferenzmethoden wie Open-Space, Welt-Cafe, twitter-wall, Vierecken-Diskussion u.ä., Neumitgliedertreffen, Zirkusevents, Mitgliederbefragungen und vieles mehr).
Ein solches Upgrade unserer Parteistrukturen hat aber nur eine begrenzte Außenwirkung. Immer wieder mussten wir feststellen, dass in erster Linie das Auftreten der Bundes-SPD über Erfolg und Misserfolg bei Wahlen entscheidet.
Mit unserem Brief wollen wir einen Beitrag dafür leisten, den Erneuerungsprozess der Bundes-SPD in die richtigen Bahnen zu lenken.
Die Inhalte für unseren „Brief an Martin“ sind auf einer Kreismitgliederversammlung nach der Methode Open-Space -erarbeitet und per „Ampelabstimmung“ beschlossen worden.
Unsere zentrale Botschaft ist einfach:
Neuwahlen sind für uns in der gegenwärtigen Situation der letzte Ausweg. Zuvor müssen alle Möglichkeiten ausgelotet werden, im gewählten Parlament eine Regierung zu installieren. Wir halten eine von der SPD wie auch immer geduldete Minderheitsregierung für einen gangbaren Weg. Der Deutsche Bundestag könnte so wieder zu einem lebendigen Mittelpunkt des politischen Geschehens werden.
Wir müssen die Zeit in der Opposition nutzen, um unsere sozialdemokratische Vision einer solidarischen und sozial gerechten Gesellschaft weiterzuentwickeln und unter den bestehenden Verhältnissen umzusetzen. Unsere Vision kann aber nur dann Wirklichkeit werden, wenn wir die Menschen inhaltlich und emotional mitnehmen. Wir müssen ihre Ängste rund um die Zuwanderung und ihre Sorgen rund um die innere und soziale Sicherheit in den Mittelpunkt stellen und nicht so sehr die Spiegelstriche unserer Parteitagsprogramme.
Wir können uns es nicht leisten, das Thema Flüchtlinge auszuklammern. Wir müssen bei dieser Frage Ehrlichkeit zeigen und sagen, dass nur mit einem Zuwanderungsgesetz, das einen geordneten Zuzug möglich macht, die Lage beruhigt werden kann. Wir müssen auch deutlich machen, dass eine Verbesserung der katastrophalen sozialen und politischen Situation in den Herkunftsländern unverzichtbar ist und dies uns Geld kosten wird. Wir nennen dies Friedenspolitik.
Lieber Martin, wir müssen auch so mutig sein, wichtige Themen wie Digitalisierung, demografischer Wandel, Pflege, Rente, Mindestlohn, Zeit- und Leiharbeit Bürgerversicherung, Wohnungsnot und Auswirkungen der Globalisierung zu benennen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Soziale Gerechtigkeit in einer solidarischen Gesellschaft braucht einen handlungsfähigen Staat, ein starkes Europa und gesunde Finanzen. Deshalb können wir es nicht zulassen, dass Reiche sich zunehmend ihrer Verantwortung für den Staat entledigen. Vielleicht kann man daraus eine neue sozialdemokratische Erzählung machen.
Dies ist unsere Chance, bei der nächsten Bundestagswahl von der SPD enttäuschte Wähler und Wählerinnen zurückzuholen und neue zu gewinnen. Wir müssen das in verständlicher Sprache tun und einfache, nachvollziehbare und konkrete Aussagen liefern.
Auf jeden Fall ist uns auch klar, dass ein solcher Erneuerungsprozess in Richtung zu mehr sozialer Gerechtigkeit einen langen Atem erfordert. Mit ein paar Beschlüssen auf dem nächsten Parteitag ist das nicht getan. Wir müssen den Mut haben, den Menschen auch zu sagen, dass in einer Demokratie Kompromisse notwendig sind und kaum ein Problem mit ein paar kurzsichtig-populistischen Schellschüssen gelöst werden kann.
Eines der Kernthemen einer immer älter werdenden Gesellschaft ist, ein gutes Leben im Alter führen zu können. Dazu bedarf es eines Rentenniveaus deutlich über dem heutigen. Die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung mit einer Mindest- und Höchstrente, die Beitragspflicht für Vermögens- und Kapitaleinkünfte und die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln sind dafür unerlässlich. Wir sind nicht nur die Partei der „guten Arbeit“ – wir sind die Partei, die allen ein gutes Leben, egal in welcher Phase sie sich gerade befinden, ermöglichen will. Dazu gehört natürlich auch eine menschenwürdige Betreuung und Versorgung.
Wir müssen eine Zukunftsdebatte führen unter dem Motto „Der Mensch im Mittelpunkt“. Das fängt bei kostenfreier Bildung an, geht über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und endet mit qualifizierter, menschenwürdiger Pflege, sowohl für Patienten als auch die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten.
Lieber Martin, es dürfte Dich nicht wundern, wenn im ehemaligen Wahlkreis von Hermann Scheer die Forderung nach weiterem Ausbau regenerativer Energien, nach CO2-Reduzierung und nach einer Mobilitätswende massiv unterstützt werden. Auch hier sollten wir die Menschen mitnehmen und echte, akzeptable und nachhaltige Alternativen zu den vorhanden Verbrennungsmotoren aufbauen. Handwerklich schlecht gemachte Fahrverbote werden im Autoland Baden-Württemberg nicht als wirkliche Alternative angesehen.
Nach Umfragen hat die Bildungspolitik eine wichtige Rolle bei der Wahlentscheidung am 24. September gespielt. Offensichtlich unterscheiden die Wähler nicht zwischen unterschiedlichen Zuständigkeitsebenen. Die Länder werden nicht mehr als ausschließliche Träger der Bildungspolitik wahrgenommen. Diese Stimmung sollte genutzt werden. Gerade im Bildungsbereich ist die ausschließliche Länderhoheit nicht mehr zeitgemäß.
Lieber Martin, die Sozis im Rems-Murr-Kreis unterstützen Deine Kandidatur für den Vorsitz der Bundespartei. Wir haben den „Hype“ um Deine Person im Spätwinter noch nicht vergessen. Manch einer hat sich Pressemitteilungen wie „SPD in Umfragen erstmals vor der CDU“ eingerahmt und auf den Schreibtisch gestellt. Wir fragen uns alle, was danach mit der SPD geschehen ist. Mit großem Interesse haben wir in diesem Zusammenhang die „Schulz-Story“ im Spiegel gelesen.
Es war sicherlich so, dass unser Hauptslogan „Mehr Zeit für Gerechtigkeit“ nicht gezündet hat. Aber unser Anliegen ist trotzdem richtig.
Vielleicht brauchen wir in Zukunft doch mehr von dem Martin Schulz, der im Februar 2017 offensichtlich die Gefühlslage der Menschen getroffen hat.
Ganz sicher brauchen wir auch einen „Vorzeige-Sozi“, der nach dem Brexit und einer zunehmend nationalistischen Stimmung eine Idee für Europa verkörpert. Dein Ansehen als ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments spricht für Dich.
Also, lieber Martin, mach es.
Für die SPD im Rems-Murr-Kreis
Jürgen Hestler
Kreisvorsitzender